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Großeltern und Enkelkinder haben einander viel zu erzählen

Meine Großmutter kam 1898 in Schlesien zur Welt: Sie war 60, als ich geboren wurde und sie wurde der wichtigste Mensch meiner Kindheit. „Mach die Oma nicht traurig, frag sie nie nach dem Krieg!“ So lautete die Ermahnung meiner Eltern. Eine sinnlose Ermahnung, denn Oma erzählte mir immer wieder von ihrem Mann, der im Krieg gefallen war und ihrem Sohn Fritz, der „als vermisst gemeldet“ galt. Sie hoffte bis zu ihrem Tod, Fritz würde vom Roten Kreuz gefunden werden. Panzer machten Oma Angst, ich hasste sie stellvertretend für sie und übergab mich bei jedem Besuch am 26. Oktober in der Kaserne in Lienz. Vielleicht lag es an der Gulaschsuppe, vielleicht aber daran, dass Panzer und Gefahr für Oma für mich zusammengehörten. Als am 26. April 1986 der Reaktor-Unfall von Tschernobyl bekannt wurde, lebte Oma noch und sie tröstete mich am Telefon: „Lass doch die Kinder raus spielen. Wird nicht so schlimm sein!“

Ich antwortete: „Diese Strahlen sind deine Panzer!“ Oma reiste an, mit dem Zug und ganz und gar unerschrocken, und spielte mit den beiden Kleinkindern in der Wohnung. Meine Kinder nannten meine Oma „kleine Oma“ und gemeinsam legten sie Puzzle, vertieften sich in Bilderbücher und genossen Tiefkühlkost. „Aha, keine Milch, nichts Frisches, Kartoffeln gehen aber! Dann essen wir halt, was du kaufst. Man sieht ja rein gar nichts. Aber wenn du meinst, dann gehen wir nicht spazieren!“ Noch immer vermisse ich meine Oma jeden Tag, immer, wenn ich Kartoffelsuppe koche, denke ich an sie, ihre kleine Küche und ihren eisernen Willen, mich, ihre Enkeltochter, immer verstehen zu wollen. Ich war 59 Jahre, als ich Oma wurde, die Kleine hat einen eisernen Willen, das kann man so sagen. Wie ich ihr erkläre, dass ich sie nicht besuche, heute nicht, morgen nicht, vielleicht in sechs Wochen? Sie wird mit drei Jahren „anstecken, Ansteckung“ lernen, wie ihr Vater 1986 lernen musste, dass „Strahlen“ nicht immer „Sonnenstrahlen“ sind. Ja, er hat mir in die Hand gebissen, als ich die Tür absperrte. Ja, er war wütend, dass er nicht raus durfte und seine 3-jährige Schwester und er schauten fassungslos aus dem großen Fenster in den schönen Garten. Auch damals gingen draußen Eltern mit ihren Kindern spazieren und ließen sie munter im Sand buddeln: „Ist doch gar nichts. Das sind die linken Spinner, die aus Mücken Elefanten machen.“ Wir hatten keinen Balkon damals, das Wetter war im wahrsten Sinne strahlend, doch mein Netzwerk funktionierte: Wer Zeit hatte, übernahm die Kinder in den diversen Wohnungen und sogar das Fernsehgerät wurde regelmäßig eingeschaltet. Und heute? Netzwerke liefern Essen vor die Tür und halten digital Kontakt, ich bleibe also Teil meines Familiennetzwerkes: „Wie geht es dir, meine Kleine? Wir bleiben zuhause, wir gehen nicht in die Arbeit und nicht einkaufen. Wir kommen auch nicht zu dir und ihr kommt jetzt nicht zu uns. Das Virus sieht man nicht, das ist das Blöde dran. Vertreiben können wir das Virus auch nicht, das geht nur mit dem Riesen Bumbum in deinem Bilderbuch. Jeden Tag am Abend singen Opa und ich ein Lied für dich, das Video schicken wir deinen Eltern.“ Oma Martha wäre stolz auf mich!