Loriot hat es immer schon gewusst, ich wusste es von ihm: Es gab dieses Früher, das kann man immer, wenn man im Jetzt ein wenig verzweifelt, beschwören, anrufen, bejubeln. Ich habe bereits als Kind das Lametta, das damals von den Ästen des Christbaumes hing, gehasst. Es verursachte bei mir Zahnschmerzen, ich hatte damals schlechte Plomben, die der Gesundheit nicht zuträglich waren, besonders eben zu Weihnachten. Weil da noch mehr Lametta war. Dann wurde ich groß und kaufte den ersten Christbaum, ich fand das aufregend und handelte den Preis um 20 Schilling runter. Lametta kam mir nicht auf die Äste, dafür wunderbar duftende Kerzen aus Bienenwachs, die triggerten auch keine Schwachstelle meines Körpers.

 

Und heute ist 2020, der Christbaum steht im Wohnzimmer, kein Lametta, keine Kerzen, zwei sehr dezente Lichterketten, ach, Herr Loriot! Es ist ein guter Baum, völlig unkompliziert erworben, diesmal ohne das von mir so geliebte Feilschen. Es ist alles da, es ist mehr als genug vorhanden, da darf das Bäumchen ruhig ein wenig reduzierter sein. Ich bin gesund, meine Lieben sind gesund, wir machen also weiter, im Homeoffice, mit FFP2-Masken, manche von uns müssen raus, um die mach ich mir meine Sorgen. Aber wenn ich in der Glockengasse vier Frauen unterrichte - Unterricht mit maskierter Lehrerin/mir und maskierten Teilnehmerinnen/vier tolle Frauen - , ist das ein großes Stück meiner Normalität: Nein, ich teile hier keinen Bildschirm, ich schreibe schwungvoll auf die Flipchart-Blätter und eine Breakout-Session geht sich in diesen 60 Minuten nicht aus. Dativ oder doch besser Akkusativ? Oder wie war das gleich mit den beiden Fällen? Ach so, die sind schon wichtig und die Regeln, ja, langsam verstehen wir sie.

 

Das Lametta hängt über dem Ast/Zweig. Ich hänge das Lametta über den Zweig. Ich hasse das Lametta. Ich verzichte auf das Lametta. Ich kaufe nie Lametta. Tschuldigung: Was ist Lametta?

 

Herr Loriot! Herr Loriot! Beschreiben Sie bitte kurz und prägnant "Lametta".

 

Veränderte Zeiten, veränderte Handlungen, vertraute Gespräche

Da stand er, rote Jacke, rote Brille und die Maske über Mund und Nase. Es war beinahe Mitternacht, ein Hund bellte, sonst war es sehr still in der Gasse. „Ich war bei der Bank!“, hörte sie ihn sagen, ihr Blick blieb an der prall gefüllten Stofftasche hängen. Ja, so beginnen Krimis. So beginnt eine Szene, in der mein Mann mir erzählt, wie irritiert er war, als er mit Maske über Nase und Mund in die Bank ging. Er tätigte dort Überweisungen. Seit wir uns kennen und das ist wirklich lange, haben wir noch nie darüber gesprochen, wer von uns wann und mit welchem Ziel bei der Bank war. Ich nutze das digitale Bankservice, er geht zur Bank, so war es. Ich erzählte meinerseits, wie unangenehm der Einkauf im Bio-Markt war, alles bio-bio-bio und dann kennen  dort zwei besonders Eifrige den kleinen Elefanten noch nicht, der doch zwischen mir und ihnen stehen sollte. Wenn  man das Tierchen denn stehen ließe, ja, gut, stellen Sie sich, liebe Bobo-Bio-Einkäufer auch ein kleines Kalb oder eine Gemse vor oder eine Yoga-Trainerin „im herabschauenden Hund“ – nichts gegen Yoga-Trainerinnen! - : „Aber halten Sie bitte Abstand!“ Wir haben einander momentan viel zu erzählen, der Mann mit der Maske und ich.

spüre ich, dass du mich magst.

Das spüre ich fast immer. Wenn ich es nicht spüre, mache ich die Augen ganz fest zu, so lange, bis ich es wieder fühle.

höre ich deine Stimme so, wie ich sie am liebsten mag.

Deine Stimme ist die schönste Stimme, die ich kenne. Wenn du zu viel schimpfst, schließe ich die Ohren; wenn es dann wieder ruhig da draußen ist, höre ich wieder zu.

sehe ich dein Lächeln.

Dein Lächeln ist wie der Himmel. Manchmal gibt es kleine Wolken und manchmal ist dein Gesicht voller Wolken. Dann gibt es noch Blitze in deinem Gesicht, besonders in deinen Augen. Und dann den Regenbogen, den sehe ich immer gerne, besonders dann, wenn wir gerade mal wieder Ärger hatten miteinander

rieche ich das Abenteuer der Geschichten.

Abenteuer riechen wie ein Fluss, wie ein alter Baum und wie Kartoffeln im Lagerfeuer. Wie Putzmittel riechen sie nie.

Vorlesen ist Liebe. Täglich zehn Minuten Zeit, für sich, für eine Geschichte, für das Kind, die Kinder, die Kleinen und die Großen, die gerne zuhören, weil sie dann so ruhig werden und wieder sehr viel spüren, hören, sehen und riechen. Die Liebe blättert die Seiten um.

Christina Repolust

Schlechten Gewohnheiten trotzen
Vor vierzig Tagen lockten Schokolade,
verführten  Nachrichten am Handy,
lauerten  alte Fernsehgewohnheiten im Wohnzimmer:
Dieses Zuviel würde man in den Griff kriegen,
dazu gab man sich 40 Tage Zeit

Buntheit und Hoffnung erwarten
Etappensiege erreichte man Tag für Tag:
mehr Zeit für die Familie, weil weniger Fernsehen,
mehr Gesundheit, weil weniger Schokolade,
mehr Gespräche, weil weniger Handykommunikation.
Ein gutes Gefühl, sich und sein Leben im Griff zu haben.

Tod und Auferstehung erleben
Wir haben Krankheit und Tod nicht oder nur selten verdrängt,
wir haben uns letzte Momente vorgestellt und in Gedanken Abschiedsworte an die Liebsten formuliert,
wir haben gehofft, Eltern und Großeltern noch lange um uns zu haben,
und sie, wenn sie denn doch gehen mussten, im Sterben begleiten zu können.

Gute Gewohnheiten begrüßen
Wir kramen in Schachteln nach Kinderfotos und erinnern uns an früher,
wir winken Freunden via Skype zu,
wir lesen einander Gedichte vor,
spielen für die Nachbarn am Fenster ein Lied.
Suchen Ablenkung, wenn wir uns in dieser Enge auf die Nerven gehen.
Essen ein Stück Schokolade.

Ein Marienkäfer krabbelt auf der Fensterbank.

Marienkäfer queren Fensterbänke,
Magnolienblüten platzen auf,
Kinder greifen in Schokoladeteig,
Erwachsene trinken Kaffee.
Katzen putzen ihr Fell.

Normalität ist leise,
stolpert nicht,
ist da und beruhigt.

Eine träumt vom Meer,
einer tanzt beim Zähneputzen,
viele klatschen aus den Fenstern.
Zeitungspapier raschelt wie immer,
Katzen jagen Vögeln nach.

Normalität ist selbstsicher,
kennt keine Eile
und atmet ruhig.

Vögel jagen Katzen nach,
Marienkäfer trinken Kaffee,
Erwachsene queren Fensterbänke
Kinder sitzen in Bäumen

Die Normalität lächelt
und steckt den Kopf in den Schokoladeteig.

Christina Repolust, 19. März 2020